Dieser Text startet mit zwei Gedanken, entstanden bei der Arbeit für ein konkretes Kundenprojekt. Mehr zum Hintergrund also später …
Erster Gedanke: Online-Singlebörsen
Wer schon mal bei Parship, Elitepartner & Co. mitgemacht hat (zwinker, zwinker), der weiß, dass zu Beginn der Mitgliedschaft ein langer Fragebogen auf Ausfüllung wartet – zwecks psychografischer Bestimmung der Persönlichkeit, damit das System anschließend die passenden potentiellen Partner vorschlagen kann. Problem dabei: Es sind sehr viele Fragen, die eine Menge Zeit und auch Nerven kosten können. Und abgesehen von der Plausibilität der Fragen überprüft auch keiner, ob die Antworten überhaupt der Wahrheit entsprechen.
Wie wäre es denn, wenn ich als Anwender der Single-App erlauben würde, sämtliche meiner Social-Media-Aktivitäten der letzten zwölf Monate zu analysieren? D.h. alle Aktivitäten und Interaktionen wie Teilen, Bewerten, Kommentieren, Liken und Klicken. Auf Facebook, Instagram und LinkedIn. Weitere Annahme: Aus diesem Datenwust könnte dann ein Algorithmus mein ganz individuelles Persönlichkeitsprofil erstellen – und zwar nach dem bekannten Big-Five- oder OCEAN-Modell aus der Persönlichkeitspsychologie.
Wer es nicht kennt: Es besteht aus den Dimensionen Offenheit, Gewissenhaftigkeit, Extraversion, Verträglichkeit und Neurotizismus. Bei jedem Menschen (oder allem mit einem "Verhalten") kann bei jeder einzelnen Dimension eine Ausprägung irgendwo zwischen stark und schwach bestimmt werden. Alle fünf Faktoren miteinander kombiniert ergeben dann als Ergebnis ein einzigartiges psychografisches Bild. Zum Wikipedia-Eintrag hier lang.
Die Singlebörse wüsste nun also ziemlich genau über mich Bescheid, wobei ich hier alle datenschutzrechtlichen Aspekte einmal beflissentlich ignorieren möchte. Im nächsten Schritt würden mir nun genau die Personen vorgeschlagen werden, deren Profil perfekt zu meinen passen. Woher das System das wüsste? Aus erfolgreichen "Matches" ehemaliger Mitglieder, also aus Daten der Vergangenheit. Eventuell würde ich sogar differenzierte Vorschläge erhalten: Für besonders harmonische Beziehungen, welche mit extra Pfeffer drin oder Beziehungen, die beides versprechen.
Zweiter Gedanke: Parteien der Bundestagswahl
Auch Parteien agieren als eine Art "Persönlichkeit" im Social-Media-Kosmos. Alle investieren viel Geld, Personal und Hoffnung, um ihre Zielgruppen schon vor oder am Wahltag zum Kreuzchen zu bewegen und vor allem die vielen Unentschlossenen noch gerade rechtzeitig auf ihre Seite zu ziehen.
Ließe sich auch hier durch die Analyse des kompletten digitalen Rauschens für jede Partei ein konkretes psychologisches Bild zeichnen? Wieder nach dem oben genannten Big-Five-Modell? Zu welchen Ergebnissen würde das wohl führen? Neben den Parteifunktionären und -Mitgliedern sprechen, schreiben und kommunizieren ja auch ganz normale Bürger in den Partei-Foren – und nur die Kommunikation aller Beteiligten ergeben das komplette psychologische Bild. Aus dem Stegreif könnte ich nun nicht sagen, ob die AFD am Neurotischsten, die GRÜNEN am Empathischsten oder die FDP am Aufgeschlossensten ist!?
Was ich fast noch spannender fände, ist die Konsequenz aus den Resultaten: Welche Parteien mit welchen Mindsets (ein anderes Wort für "Persönlichkeit") passen denn nach der Wahl am besten oder am wenigsten für Koalitionen zusammen? Auch hier gilt: Welche Verbindungen waren in der Vergangenheit besonders erfolgreich, ausgewogen oder konstruktiv? Welche waren von Anfang an zum Scheitern verurteilt?
Bei beiden Szenarien, also den Singlebörsen wie auch den Parteien, wird ein System bzw. ein Algorithmus gebraucht, der aus vergangenen Zusammenhängen "lernt", daraus die entsprechenden Lehren zieht und mit jeder weiteren Datenfütterung noch besser wird. Klingt nach Künstlicher Intelligenz? Korrekt.
Die beiden Anwendungsbeispiele habe ich mir ausgedacht …
… die Idee dahinter natürlich nicht. Die habe ich ganz aktuell bei meiner Öffentlichkeitsarbeit für ein Düsseldorfer Marktforschungsinstitut kennengelernt.
Es geht um ein Marktforschungs-Werkzeug namens "MindsetMatching®". Mittelfristig soll dieses "Tool" der Werbeindustrie helfen, die künftige Suche und Auswahl von "Influencern" auf eine neue, valide (weil datenbasierte) Ebene zu heben. Zur Erinnerung: Influencer sind Social-Media-Figuren, die ihren tausenden, manchmal auch Millionen von Followern bestimmte Marken und Produkte präsentieren und empfehlen. Was also früher der Gottschalk mit den Gummibärchen bei "Wetten, dass …" war, ist heute ein Social-Media-Sternchen (m/w/d), das online die Süßigkeiten auf den eigenen Küchentisch legt und "ganz nebenbei" wegmümmelt.
MindsetMatching® beschreibt genau das, was ich oben schon in Gedanken auf Parship oder die Bundestagswahl angewandt habe. Es kann nämlich systematisch in die Social-Media-Welt von Influencern hineinhorchen, wie diese sich mit ihrer Community austauschen oder interagieren. Wobei die meisten Influencer keine wirklich prominenten Figuren der Öffentlichkeit sind, sondern relativ unbekannte Nano- und Micro-Influencer, die weniger als 5.000 bzw. weniger als 50.000 Follower haben.
"Social-Listening" und Künstliche Intelligenz
In dem genannten Konzept arbeitet ein Algorithmus, der im Agenturjargon "Social-Listening" betreibt. Gehört und aufgezeichnet werden Aktionen wie Liken, Klicken und Bewerten sowie natürlich Sätze, Wörter, Zeichen und Emojis. Dieses Informationswirrwarr sagt dem System erst mal: NICHTS. Und wird deshalb standardisiert, strukturiert und in handlichere Einheiten zerkleinert. Erst in dieser Form lässt sich das Gesagte bzw. Geschriebene nun verstehen und auch interpretieren.
Einige Verfahren dahinter heißen Sentiment-Analyse, Natural-Language-Processing, Parsing, Tokenization und wie schon erwähnt Anwendungen mit Künstlicher Intelligenz (KI). Wer Details dazu erfahren will, muss bis zum P.S. dieses Textes warten.
Erfolgreiches Werbe-Pärchen oder "Mismatch"?
Der geneigte Leser wird es ahnen: Das Ergebnis des "Social-Listening" sind die Persönlichkeitsprofile von Influencern, wieder nach dem Prinzip der Big-Five. Und exakt diese Fünf werden ebenso genutzt, um die zu bewerbenden Marken zu analysieren. Werden nun die zwei Profile übereinandergelegt, stellt sich die Frage: Passen Marke und Influencer zusammen? Bei der Antwort hilft der Blick in den bestehenden Datenpool aus Werbe-Pärchen der Vergangenheit. Welche waren erfolgreich? Welche leider ein "Mismatch"?
Vorteilhaft waren meistens diejenigen Konstellationen, bei denen man ähnliche, kongruente oder einfach zueinander passende Wertemuster und Einstellungen feststellen konnte. Denn in der Regel lassen sich nur unter diesen Voraussetzungen Marken-Zielgruppen von einem Influencer führen und beeinflussen. Oder soll ich sagen: Manipulieren?
Ist denn ein Verfahren wie MindsetMatching® so neu? Ja. Ist es. Zumindest für das Influencer-Marketing haben Werbetreibende bisher tatsächlich kein qualitatives, psychologisches Instrument zur Hand. Die Selektion findet bis heute lediglich über quantitative Daten wie Reichweitenzahlen oder Likes statt. Und am Ende eben auch mit viel Bauchgefühl oder Intuition. Nicht ungefährlich bei den Summen, die die großen Markenartikler so aufwenden.
Wer weiß, vielleicht finden ja auch Parteien und Singlebörsen Gefallen an diesem Verfahren. Zumindest für mich wäre das schon mal ein Gewinn, klingt doch beides nach sehr dankbaren PR-Themen (zwinker, zwinker).
P.S.: Wen das Thema NOCH ein wenig mehr interessiert, auf der Agentur-Seite gibt es ein Whitepaper dazu.